Andreas Zeuch ist seit 2003 Berater, Trainer und Coach zur Entwicklung effektiver Entscheidungskultur. Mit der professionellen Intuition beschäftigt er sich aber schon viel länger. Nun hat er dazu den Amazon-Bestseller „Feel it! So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen“ geschrieben. Hier verrät er, auf was es bei der Intuition ankommt.

Andreas, wie kam es, dass Du dich so intensiv mit Intuition beschäftig hast? Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das Dir gezeigt hat, wie wichtig Intuition ist?
Andreas Zeuch: Ein spezifisches Erlebnis gab es für mich nicht. Aber ich habe gemerkt, dass ich vor allem in Gruppenprozessen eine Selbststeuerung habe, die sehr erfolgreich war. Meist habe ich aus dem Bauch heraus gehandelt und das hat gut funktioniert. Irgendwann habe ich mich gefragt, wie es sein kann, dass ich überzufällig oft richtig liege, obwohl auf diesem Gebiet ja kein Masterplan möglich ist. So bin ich zur Überzeugung gelangt, dass diese Intuition auch eine professionelle Kompetenz ist, die man fördern muss.

In Deinem Buch „Feel it!“ gehst Du sehr kritisch mit den paradoxen Pseudorationalisten um. Wieso befinden wir uns mit dem Glaube an das Allheilmittel Rationalität auf dem Holzweg?
Dazu gibt es fünf Argumente:

  • Erstens gibt es keine reine Rationalität. Jede Entscheidung, also jede Auswahl von Optionen und damit jede Wahrnehmung, jeder Gedanke, jede Handlung enthalten immer sowohl rationale als auch emotional-intuitive Komponenten.
  • Zweitens sind ohne emotional-intuitive Aspekte rationale Entscheidungen gar nicht möglich. Dazu gibt es eine Menge Studien, vor allem von dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio. Er hat gezeigt, dass es extrem schwer wird, eine Entscheidung zu treffen, wenn diese Aspekte gestört sind.
  • Drittens ist der rationale Verstand mit der zunehmenden Komplexität und Dynamik überfordert. Die ungeheure Menge an Daten, über die wir heute verfügen, kann von unserem Verstand alleine gar nicht bewältigt werden. Ich höre von Führungskräften immer öfter, dass die nicht das Problem haben, zu wenig Informationen zu haben, sondern viel eher in einer Datenflut zu ersaufen.
  • Viertens spielt Nichtwissen eine immer größere Rolle, das wir nicht durch Rationalität kompensieren können. Zu wenig Wissen haben wir zum Beispiel, wenn wir neue Märkte erschließen oder ein Unternehmen gründen. Oftmals existiert aber zu viel Wissen und wir können das Relevante nicht mehr vom Irrelevanten unterscheiden. Zu komplexen Technologien existiert häufig widersprüchliches Wissen. Nimm doch nur die Atomkraft. Weißt Du, welchem Gutachten Du glauben sollst? Dann gibt es eine Menge unverständliches Wissen, zum Beispiel in der Finanzbranche, und in der Politik stolpern wir haufenweise über nicht vertrauenswürdiges Wissen. Das finden wir aber auch innerhalb von Unternehmen wieder, wenn dort Machtpolitik betrieben wird und gezielt Informationen vorenthalten werden. Ganz deutlich ist mir das bei den Übernahmen Continental/Schäffler und Porsche/VW aufgefallen. Und was bitte machen wir, wenn wir keine ausreichende Datenlage für eine rationale Entscheidung haben? Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Würfeln oder auf die Intuition achten.
  • Fünftens gibt es nicht die eine Rationalität. Die existiert nur beim Homo oeconomicus, der absolut rational handelt und seinen Nutzen maximiert. Der ist aber nur ein theoretisches Konstrukt. Viele Experimente wie das Ultimatumspiel zeigen, dass Menschen eben nicht nach maximalem Nutzen streben, sondern vielmehr nach Gerechtigkeit.

„Wir können Intuition nicht einfach durch Knopfdruck einschalten.“ (Andreas Zeuch)

Du hast jetzt schon ein paar von den zahlreichen Studien über die Intuition und ihre Bedeutung für Entscheidungen erwähnt. Warum wird Intuition trotzdem in den meisten Fällen von der Unternehmensführung abgelehnt?
Das liegt vor allem daran, dass Unternehmen sehr auf Vorhersagbarkeit und Kontrolle ausgerichtet sind. Intuition ist aber ein Symbol dafür, dass es an eben diesen beiden Eigenschaften mangelt. Denn wir können weder vorhersagen, ob wir eine nützliche Intuition haben werden, noch können wir Intuition einfach durch Knopfdruck einschalten. Wenn es so wäre, würde jeder gezielt im Lotto gewinnen, oder allgemeiner gesagt: wir würden uns fünf Minuten hinsetzen und hätten die perfekte, intuitiv ersonnene Lösung. Die gesamte rationale Entscheidungstheorie basiert aber auf Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Und sie suggeriert uns, dass wir schon alles im Griff haben, wenn wir nur die richtigen Informationen haben. Allerdings ist es seltsam, dass wir trotz so ausgebuffter rationaler Entscheidungsmethoden doch immer wieder scheitern. Da muss ich mich doch fragen, ob die Manager zu dämlich sind, oder ob sie ihre Unternehmen ruinieren wollen? Natürlich weder noch. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Verkürzung zu Misserfolg führt.

Worauf müssen Unternehmen achten, wenn sie Intuition fördern wollen?
Das Wichtigste in Kürze: Reduziere Intuition nicht auf eine persönliche Entscheidungskompetenz! Intuition hängt zwar zum einen davon ab, wie gut ich im Entscheiden bin. Aber sie ist auch immer eine Frage der Entscheidungskultur, also des unternehmerischen Rahmens. Wer darf was entscheiden? Dürfen die Mitarbeiter einzeln entscheiden, müssen sie alles durch Zahlen, Daten und Fakten begründen? Wie wird mit Fehlern umgegangen? Wird nur der Schuldige gesucht oder versucht man, die jeweilige Gesamtsituation zu begreifen? Zu guter Letzt ist das Entscheidungsdesign sehr bedeutend. Wie werden Entscheidungen konkret getroffen? Da wäre zum Beispiel ein Unternehmens-Entscheidungsmarkt sehr hilfreich.

Was können wir uns darunter vorstellen?
Das ist eine webbasierte Einrichtung, an der Tausende von Leuten wie in einem Wettbüro an Entscheidungen teilnehmen. Man hat herausgefunden, dass die dort getroffenen Entscheidungen wesentlich effektiver sind als die von Expertengremien. Dort entsteht also so etwas wie eine kollektive Weisheit. Nur leider wissen die wenigsten Top-Manager, dass es so etwas gibt.

Gibt es auch Unternehmen, bei denen es keinen Sinn macht, Intuition weiter zu fördern?
Nun ja, das sind eben diejenigen, die zwanghaft jede Entscheidung begründen wollen und sich selbst ersticken mit dem verzweifelten Versuch, alles zu belegen. Da brauchen wir nicht mal über Intuition reden. Die ist dort ja eh nur ein wolkiges esoterisches Hirngespinst.

Gibt es vielleicht Branchen, die da sehr gefährdet sind?
Interessanterweise kann ich das nicht behaupten. Nein, das hängt immer ganz vom Unternehmen ab. Im Softwareengineering herrscht zum Beispiel ein sehr großes Bewusstsein für das Problem der begrenzten bewussten Verarbeitungskapazität unseres Gehirns.

Tatsächlich. Obwohl es eine Technologiebranche ist?
Ja, und das kommt auch daher, dass es keine einzige fehlerfreie Software gibt, weil die Komplexität so enorm groß ist. Es gibt zu viele Störfaktoren und häufig kommen vom Kunden laufend Anforderungsänderungen. Deshalb müssen Softwareunternehmen immer agil sein und improvisieren. Da ist die Intuition unerlässlich. Ein bisschen anders ist es dann aber im Maschinenbau. Dort werden keine virtuellen Produkte, sondern Produkte zum Anfassen hergestellt. Da wird die Intuition meiner Erfahrung nach eher abgelehnt, da dort der Glaube herrscht, durch möglichst exakte Berechnungen alles kontrollieren zu können. Aber allgemein kann man sagen, dass das Akzeptieren von Intuition branchenunspezifisch ist.

Vorsicht vor dem Halo-Effekt (Andreas Zeuch)

Die Intuition hat für professionelle Entscheidungen trotzdem einen ziemlich schlechten Ruf. Vor allem, weil es viele Situationen gibt, in denen unsere Wahrnehmung uns etwas vorgaukelt. Was können wir tun, um nicht in diese Fallen zu tappen?
Zuerste müssen wir uns über das Wesen der Intuition klar werden. Sie ist, genauso wie die Rationalität, ein zweischneidiges Schwert. Sie kann genauso nützlich wie schädlich sein. Der zweite Schritt besteht darin, genau zu wissen, wie uns unsere Intuition auf den Holzweg führen kann. Da gibt es zum Beispiel den Halo Effekt. Dabei übertragen wir eine positive Eigenschaft eines Menschen gleich auf seine ganze Persönlichkeit. Nehmen wir an, Du legst viel Wert darauf, dass ein Bewerber Lackschuhen und Seitenscheitel hat. So jemanden wirst Du auch mit offenen Armen empfangen obwohl Du dem Gleichen mit zottigen Haaren und dreckigen Schuhen keine Chance geben wirst. Aber wenn wir wissen, dass wir für solche Dinge anfällig sind, werden wir achtsamer. Dann können wir mit Kollegen über unsere fehlgeleitete Intuition sprechen und Wahrnehmungsfallen herausfiltern.

Was zeichnet professionelle Intuition aus?
Zunächst einmal bedeutet Professionalisierung, unsere Intuition so zu verbessern, dass wir unseren Gewinn maximieren. Durch Fehlentscheidungen entstehen andererseits ökonomische Verluste. Da wäre ich doch blöd, wenn ich die Intuition nicht nutzen würde, um die Entscheidungskompetenz zu verbessern. Professionalisierung der Intuition bedeutet also Gewinnmaximierung und Verlustminimierung.

Wie werden wir Intuitions-Profis?
Dazu müssen wir begreifen, dass Intuition gut und schlecht wirken kann. Damit ist schon einmal sehr viel gewonnen. Dann müssen wir unsere eigene Intuition achtsam wahrnehmen. Aber Vorsicht, das wird häufig missinterpretiert. Das heißt nicht, dass wir ihr dann auch folgen müssen. Wir verschaffen uns nur eine weitere Entscheidungshilfe. Wenn ich kurz vor dem Projektstart ein mulmiges Gefühl bekomme, sollte ich das auf keinen Fall ignorieren. Sehr intelligent wäre es nun, über die eigenen Bedenken zu reden. Umgekehrt kann ich aber auch die Mitarbeiter fragen, warum sie denn glauben, dass das Projekt ein Erfolg wird. Nur unsere eigene Intuition zu beobachten reicht aber nicht aus. Für die Professionalisierung braucht es auch eine entsprechende Entscheidungskultur. Vor allem bei Führungskräften in den höheren Etagen erlebe ich immer wieder, dass sie zwar selbst intuitiv entscheiden, von ihren Untergebenen aber eine Begründung fordern. Eine Menge Studien zeigen aber, dass Begründungen nur eine Erfindung unseres Geistes sind, um uns unsere intuitiv getroffene Entscheidung nachträglich zu erklären.

Häufig ist zu hören, dass Intuition nur etwas für Experten mit langjährigem Erfahrungsschatz ist. Aber wie sieht es mit Anfängern aus?
Sehr gute Frage. Auch Anfänger dürfen und sollten intuitiv sein, denn Intuition ist eine Grundfunktion, die jeder besitzt. Wir verarbeiten unbewusst mehr und schneller Infos als bewusst. Der Experte ist nur besser in der Mustererkennung. Das unterscheidet meinen Ansatz von allen anderen, die bislang in Buchform veröffentlicht wurden. Bisher wurde immer gesagt, wir dürfen nur als Experten auf unsere Intuition achten, sollen aber als Anfänger mal ordentlich nachdenken. Das ist nachweislich Nonsens. Als Beweis genügt die einfache Frage: „Warum sind junge Unternehmer intuitiv erfolgreich?“ Die Gründer von Google wollten ihren Algorithmus zum Beispiel an Alta Vista verkaufen, aber die waren der Meinung, es gäbe keinen Markt für Suchmaschinen. Die Experten lagen falsch, die Anfänger hatten den richtigen Riecher. Deshalb sollten auch Anfänger gehört werden.

„Intuition ist die sogar die Voraussetzung, um überhaupt ein Kreativer Chaot zu sein.“ (Andreas Zeuch)

Wir Kreative Chaoten mögen es meist spontan und flexibel. Langfristige Pläne sind uns eher zuwider. Verträgt sich das mit der Intuition?
Ganz wunderbar natürlich! Intuition ist die sogar die Voraussetzung, um überhaupt ein Kreativer Chaot zu sein. Weil Intuition eine menschliche Grundfunktion ist, trägt auch jeder Mensch den Keim zum Kreativen Chaoten in sich und kann ihn aktivieren. Es wäre sehr lohnenswert, wenn jeder diese Seite in sich pflegen würde, damit er sie in unterschiedlichen Situationen abrufen kann. Dazu fällt mir gerade Nietzsches berühmter Satz ein: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ Das sagt doch schon alles, oder?

Kreative Chaoten entscheiden häufig nach dem „Bauch“. Leider fehlt dann oft die erklärende Argumentationskette und schon ist die Idee beim Chef unten durch. Was rätst Du, um die Akzeptanz für Intuition im Unternehmen zu erhöhen?
Da schließt sich der Kreis zu dem, was ich über die Professionalisierung gesagt habe. Bei einer rigiden Entscheidungskultur hat der Kreative Chaot schon verloren. Wenn umgekehrt aber Offenheit gegenüber der Intuition herrscht – vielleicht, weil es trotz Rationalität schon Fehlentscheidungen gab – dann kannst Du anfangen, die Entscheidungskultur zu hinterfragen. Du kannst Beispiele suchen, bei denen kreativ chaotische Wege zum Erfolg geführt haben. So kann die Einstellung der Mitarbeiter zur Intuition langsam zum Positiven verändert werden.

Bei all der Intuition: Würdest Du dich selbst als kreativ-chaotisch bezeichnen?
Ich bin wohl beides: rational-systematisch und kreativ-chaotisch. Das kommt auch vielleicht daher, dass ich eine kreative Ausbildung hatte und dann eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben habe und so beide Seiten in mir gepflegt habe. Ich besitze so etwas wie eine Umschaltfunktion, mit der ich je nach Bedarf kreativ-chaotisch oder rational-systematisch handeln kann. Mit Leuten, die allerdings komplett kreativ-chaotisch sind, kann ich aber auch nicht. Ihre wirren Gedankengänge nachzuvollziehen, ist mir einfach zu mühsam!

Andreas Zeuch, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Hier geht´s zu meiner Rezension zum Buch von Andreas Zeuch.